Tut niemandem weh! Oder: Wer bestimmt die Agenda?

In einer jüngst erschienenen Studie der Bertelsmann-Stiftung kam heraus, dass sich die deutsche Gesellschaft aufteilt in Modernisierungsbefürworter und Modernisierungsskeptiker. Die Studie hatte einen konkreten Anlass, es ging um das Wählerverhalten bei der Bundestagswahl. In allen Parteien überwogen die Modernisierungsbefürworter, außer in der AFD, in der die Skeptiker eine große Merhheit haben. Das bedeutet zweierlei, nämlich einerseits, dass es, neutral gesagt, wohl schwierig ist, mit dieser Wählerschaft eine zukunftsorientierte und modernisierungsoffene Politik zu gestalten, andererseits aber auch, dass es sich bei vielen Wählern eher um Menschen mit einer ablehnenden Grundhaltung und nicht so sehr um Menschen mit einer politischen Vision handelt.

Ich möchte gar nicht weiter auf das Feld der Politik eingehen, weil ich weder die AFD großreden noch sie kurz abhandeln möchte. In diesem Artikel soll es gar nicht weiter um die AFD gehen. Mich hat vor allem die Frage nach der Modernisierungsoffenheit in den letzten Tagen begleitet. Um das sehr klar zu sagen: es geht mir nicht um Parallelen zwischen der AFD und der Kirche. Mir geht es schlicht um die Frage, wie es sich eigentlich zwischen Modernisierungskritikern und -befürworten in der Kirche verhält, konkret innerhalb der Gemeinde.

In der Parochialgemeinde, in der ich momentan arbeite und wohl auch in der davor, gab es einen deutlichen Überhang älterer Personen. Zumindest waren es die Älteren, die sich aktiv in dieser Gemeinde engagiert haben. Jüngere Gemeindeglieder gibt es auch, die allermeisten von ihnen tauchen allerdings nicht auf.

Möchte ich in der Gemeinde Neuerungen einführen, merke ich recht schnell, dass der Teil der Modernisierungsskeptiker in der aktiven Gemeinde wenn schon nicht größer so doch zumindest lauter ist als der der Befürworter – auch wenn ich die Veränderungen planvoll nach den Kunstregeln des Changemanagements durchführe.

Und wenn es schon nicht zu Protesten kommt, so merke ich, dass es schwierig ist, die Menschen zu mobilisieren. Veränderungen sind anstrengend, und gerade ältere Menschen – so wird es mir dann gesagt – tun sich damit schwer. Auch wenn ich weiß, dass Veränderungsbereitschaft nicht unbedingt etwas mit dem Alter zu tun hat, nehme ich es in der Gemeinde als häufig genutztes Argument wahr.

Die Gemeinde wird dadurch behäbig, was Veränderungen angeht. Und auch wenn der Gedanke sicher richtig ist, dass man möglichst viele Menschen mitnehmen möchte, kommt es mir doch schräg vor, dass es in vielen der Gemeinden, die ich kenne, eine lähmende, bremsende Dynamik gibt. Es ist eine grundlegende Skepsis Neuem gegenüber, ein Anhängen an Altem, von dem vieles aber gar nicht mehr funktioniert.

Nun könnte man sagen: lass sie machen. In fünfzehn Jahren sind viele dieser Menschen nicht mehr fit genug, um noch in die Gemeinde zu kommen.

Ich glaube aber, dass wir diese Zeit nicht haben.

Und ich denke wieder an die Verhältnisse. Wie verhalten sich eigentlich die Anzahl der Modernisierungsbefürworter und die der –skeptiker  auf die Gesamtzahl der Gemeindeglieder gesehen? Oder noch weiter gefragt: drückt sich im vehementen Fernbleiben der allermeisten Kirchenglieder (ich weiß, es gibt Ausnahmen) nicht auch eine Sehnsucht nach Modernisierung, nach Öffnung, nach Veränderung aus? Sicher, viele haben diese Sehnsucht, diesen Anspruch an die Kirche schon aufgegeben oder verloren. Aber noch sind sie zahlende Mitglieder, haben also ein Anrecht auf Überraschungen.

In schweden bin ich vor einigen Wochen über einen Kollektenautomaten gestolpert. Man konnte dort die Kollekte bequem mit Kreditkarte bezahlen. Ein logischer Schritt in einem Land, das immer weniger Bargeld benutzt und auf digitalen Geldverkehr setzt. Ich frage mich, wie ein solch logischer Schritt in der aktiven Gemeinde und in der „passiven“ Gemeinde bei mir in Köln aufgenommen worden wäre. Meine Vermutung: sehr unterschiedlich. Die einen hätten sich gewundert, was denn aus dem bewährten guten alten Klingelbeutel geworden ist. Die anderen hätten sich gefreut über eine zeitgemäße Öffnung und das Aussparen des peinlichen Momentes, wenn ein fremder Mensch mit rotem Samtsack vor einem steht und wartet, dass ich schnell Kleingeld herauskrame, wobei mir klimpernd Münzen auf den Boden fallen und alle mich anstarren. Es ist nur ein Gedankenspiel. Aber es beinhaltet die ernste Frage: gibt es nicht eine passive Mehrheit der Veränderungsbefürworter in der Kirche und wäre es nicht logisch, sich mehr auf diese Menschen einzustellen?

Natürlich birgt dies Risiken. Kritiker mögen sagen, dass womöglich dann auch die treuen Kirchgänger wegblieben, dass sie bestraft würden für ihre Treue. Hier übertreibe ich nicht, das habe ich schon genau so gehört. Aber: wenn wir dieses Risiko nicht eingehen, dann können wir in zehn Jahren abschließen und den Schlüssel wegschmeißen. Braucht eh keiner mehr. Und auch wenn das der Mehrheit der Pfarrpersonen in zehn Jahren egal sein kann (sieht man sich die Alterspyramide an), ich habe da keine Lust drauf.

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Der schwedische Kollektenautomat. Gibt es übrigens auch inzwischen (selten) in Deutschland.

3 Antworten auf „Tut niemandem weh! Oder: Wer bestimmt die Agenda?

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  1. Das ist ein Missverständnis. Die Bertelsmann-Studie hat nicht herausgefunden, dass es Modernisierungsbefürworter und -Gegner gibt. Sie verwendet lediglich die Sinus-Studie, um zu zeigen wo mehrheitlich AFD-Wähler angesiedelt sind.
    Die Sinus-Studien ihrerseits gibt es schon sehr lange und sind gerade für den kirchlichen Bereich ganz gut adaptiert worden. Hier findest Du z.B. eine zusammenfassende Darstellung. Das von Dir angesprochene Problem wird in diesem Zusammenhang schon lange diskutiert.http://heinzpeter-hempelmann.de/hph/wp-content/uploads/2013/01/Kirche-ist-anders.pdf

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    1. Danke. Die Milieustudien sind mir sehr vertraut, hab ja selber schon viel drüber geschrieben. Mir ist aber die Verteilung auf Parteien der Anlass gewesen, mich zu fragen, in welches Lager meine und andere Gemeinden wohl gehören würden. Insofern war die Studie der konkrete Anlass für die grundsätzliche Überlegung.

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  2. Das Change Management lebt davon, dass die Betreffenden einen Wandel im Grundsatz wünschen. Ist das nicht der Fall, wird der Prozess zäh bis zwanghaft.
    Nach meiner Erfahrung entsteht der viel beschworene presbyteriale Konsens nur, wenn die Mitglieder eines Presbyteriums (das die Agenda einer Gemeinde verantwortet) dieselbe Grundhaltung in Sachen Veränderung haben. Was oft der Fall ist – sie kommen halt alle aus dem selben Milieu.
    Gemeindemitglieder mit anderer Grundhaltung (oder aus anderen Milieus) sind da nicht repräsentiert und fühlen sich (zu Recht) nicht zugehörig. Mit der Folge, dass sie eine aktive Mitarbeit gar nicht erst anstreben.
    In Städten wie Köln führt das dazu, dass es Gemeinden sehr unterschiedlicher Couleur gibt. Wer sich da in seiner Gemeinde nicht wieder findet, geht einfach in eine andere benachbarte. Oder lässt sich umgemeinden. In der Provinz ist das nicht möglich. Da fällt die innerkirchliche Vielfalt einfach unter den Tisch, sobald das Presbyterium seine Homogenität gefunden hat.
    So schön die presbyteriale Ordnung in der Theorie ist – in der Praxis versagt sie zu oft.

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